Dr. Abiy strebt nicht nach Alleinherrschaft

Wir müssen ganz ehrlich zugeben, dass uns am meisten die Erklärung des Premierministerbüros beeindruckt hat: „Context and Update on Current Issues in Ethiopia“, die sich anders als andere Regierungsverlautbarungen zu Lesen lohnt. Nicht, dass wir alles glauben müssen und wollen, was eine Regierung erklärt – und nicht, dass die Politik Dr. Abiys und seiner Regierung kritiklos hinzunehmen wäre. Auf sechs Seiten ist jedoch unserer Ansicht nach, der Premier so ehrlich wie möglich bemüht, die momentane Situation zu erklären.

Wir schauen hier nicht in die Fratze eines neuen Diktators, der seine politischen Gegner in Folterkellern verschwinden lässt und nur seiner Volksgruppe wirklich Beachtung schenken will. Sondern in das erschrockene Gesicht eines Hoffnungsträger, der notwendigerweise viele Baustellen aufgerissen hat, dabei einen Rohrbruch nach dem anderen entdeckte, teils auch die falschen Klempner mit den falschen Werkzeugen gerufen hat. Und nun – das Wasser bis zum Hals – die Besonnenen bittet, nicht noch mehr Wasser in die Rohre zu pumpen, damit nicht die ganze Unternehmung versinkt.

Ob er im Überlebenskampf nicht auch falsche Behauptungen aufstellt? Möglich, vermutlich sogar wahrscheinlich. Selbst die zentrale Aussage der Erklärung, dass keiner aufgrund seiner politischen Ansichten verhaftet worden sei, können wir in vollem Umfang nicht glauben. Warum wurde beispielsweise der Journalist und Aktivist Eskinder Nega verhaftet? Im Zusammenhang mit dem Mord an Hachalu? Kaum zu glauben. Weil er mit seinem Baladera Council der Polizei und/oder dem Bürgermeister von Addis schon seit Monaten ein Dorn im Auge ist? Unbestätigte Arbeitshypothese. Oder weil es eben leichter vertretbar ist zu zwei prominenten Oromos auch einen bekannten Amharen zu verhaften? Ebenso unbestätigter Straßen-Gossip. Auf die Antworten sind wir gespannt …

Fakt ist jedoch: Während viele Kritiker gerade aus Tigray und Oromia, aber auch in internationalen Medien spätestens nach der Wahlverschiebung Dr. Abiy ein Streben nach absoluter Alleinherrschaft unterstellen, waren am politischen Prozess in Äthiopien noch nie so viele Völker, Gruppen und Individuen beteiligt wie im Moment. Äthiopiens Zukunft liegt nicht mehr nur in der Hand eines ideologischen Lenkers wie unter Meles oder Mengistu (vielleicht auch zuvor), sondern in den Händen vieler, die mit sich mit der verbogenen Rohrzange in der Hand – und oft mit zu wenig handwerklichem Wissen – zwischen Zerstörung und Reparatur entscheiden müssen.

Baumeister Abiy hat nicht mehr alles in seiner Hand – das ist auf alle Fälle der Untergang des alten Reiches. Ob es auch die Geburt des ersten äthiopischen Rechtsstaates ist, gar die Geburt der ersten äthiopischen Demokratie, entscheiden die Bürger Äthiopiens. Ob sie dieser Verantwortung gerecht werden wollen und können? Wirklich fraglich. Die westlichen Demokratien hätten darauf aber durchaus (noch) Einfluss. Zum Beispiel Kanzlerin Merkel – eine der wenigen bedeutenden Weltlenker, die in der Corona-Krise dem Partner Abiy keine telefonische Aufwartung gemacht hat. Sie besitzt in Äthiopien eine große Reputation – auch auf der Straße.

Kommentar von Alexander Bestle, Pressesprecher des DÄV – die Meinung spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung des Vorstands oder gar alle Mitglieder des Deutsch-Äthiopischen Vereins wider.

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