„Äthiopien spricht nicht mehr mit den Äthiopiern“

Noch ist Äthiopien nicht Geschichte – Äthiopien ist aber nichts ohne Geschichte. Einer der intimsten Kenner Äthiopiens ist Dr. phil. Wolbert G.C. Smidt, der seit 1993 fast ununterbrochen in Äthiopien lebt und unter anderem an der Universität Mekelle lehrt. Im März musste er wegen Corona nahezu fluchtartig seine Wahlheimat verlassen. DÄV-Pressereferent Alexander Bestle sprach ausführlich mit dem DÄV-Mitglied über seine überstürzte Abreise, seine aktuellen Forschungsschwerpunkte und vor allem über Geschichte und Geschichten, Äthiopien und der Rest der Welt – kurz: über das große Narrativ Äthiopien. Wir haben das Gespräch Anfang September vor Smidts Rückreise nach Äthiopien geführt - aufgrund der Corona-Bestimmungen ist er inzwischen jedoch schon wieder zurück in Deutschland.

DÄV: Im März mussten Sie wegen Corona Äthiopien Hals über Kopf verlassen – warum denn das? Wie abenteuerlich war die Ausreise?

Smidt: Ich war gerade im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen der Friedrich-Schiller-Universität Jena und dem Deutschen Archäologischen Institut (DAI) bei der Ausgrabung in Yeha, wo ich als Teammitglied rund um die antiken Stätten nach Traditionen und Überlieferungen forsche. Da kam dann am Donnerstag, den 12. März, die Nachricht vom DAI, die Ausgrabung müsse wegen der rapide weltweit steigenden Corona-Infektionen aus Sicherheitsgründen schnellstmöglich abgebrochen werden. Aus Jena gab es noch keinen Beschluss, aber die Ankündigung, dass es wohl sehr bald auch einen Rückruf für mich gebe. Am Freitag und Samstag waren wir dann alle nochmal ein letztes Mal auf der Ausgrabung - es war eine ungewöhnliche Situation, denn die ganze Gegend war in eine diesige gelbbraune Wolke eingehüllt. Die lokale Bauern fragten, ob es ein Zeichen Gottes sei oder womöglich eine Corona-Wolke, die aus Europa kam. Es war aber über weite Distanzen hinweg angewehter Saharastaub, ein sehr seltenes, aber ganz natürliches Phänomen - aber trug zu einer eigenartigen Stimmung bei. Ein Ältester während besorgter Diskussionen an der Kirchenmauer, er erinnere sich, dass es schon einmal vor ungefähr fünfzig oder sechzig Jahren eine solche Wolke gegeben habe und beruhigte so die Jüngeren. Wir husteten praktisch alle und fragten uns: Ist das Corona oder der Staub? In dieser unwirklichen Stimmung schlossen wir alles zügig ab. Ich selbst hoffte noch auf mehrere Tage Aufschub - ich hatte eine Forschungsverlängerung beantragt, denn ich steckte mitten in einer besonders produktiven Phase der Forschungen. Schon am Tag danach reisten die Kollegen auf verschiedenen Wegen ab - Flugzeuge gingen wegen der Saharawolke nicht mehr. Aber irgendwie suchte jeder einen Weg, über gemietete Autos nach Addis Abeba oder nach Mekelle, in der Hoffnung, dass dort die Flieger gingen. Aber die Wolke erreichte kurz darauf auch Mekelle, und es ging auch dort nichts mehr. Ich selbst hoffte noch und blieb noch vorerst in Adwa... wenn auch ohne große Erwartungen. Dann wurde klar, dass in der kommenden Woche eine Fluglinie nach der anderen ihre Flüge einstellen werde. Ich war dann am Sonntag noch bei Ältesten zur Aufnahme von Überlieferungen, hatte aber schon ein wartendes Auto - und kam nach Mitternacht dann in Mekelle an. Inzwischen war klar: Es gibt keine Verlängerungsmöglichkeit, ich muss sofort abreisen. Mein Lufthansaticket war nicht benutzbar, denn alle Lufthansaflüge waren voll und zwei Tage später sollten die Lufthansaflüge eingestellt werden. Im Büro von Ethiopian Airlines in Mekelle gab es auch keine Flüge nach Frankfurt mehr. Allerdings nach Addis Abeba - denn die Wolke hatte sich inzwischen verzogen. Da suchte ich gutes Internet in einem Hotel, hatte Glück und fand bei einem Onlineanbieter noch einen der letzten Plätze im Flieger am selben Abend und kaufte einfach ein neues Ticket. Dann ging alles rasant, ich erteilte eine notarielle Vollmacht an meinen Assistenten (eine so schnelle bürokratische Erledigung erlebte ich selten), packte und flog nach Addis Abeba. Das war also eigentlich gar nicht abenteuerlich... Ich konnte sogar gerade noch meine wichtigste Forschung auf dem Dorf abschließen. Aber als ich dann in Bole auf den Flieger wartete, kamen nach und nach fast alle Kollegen auch an, die viel kompliziertere Anreisen gehabt hatten - sie waren wegen der Anordnung aus Berlin früher abgereist, als gerade die Staubwolke über allem schwebte, während ich erst abreiste, als der reguläre Verkehr gerade wieder aufgenommen worden war. Das war allerdings zeitlich gerade noch richtig. In der Straße wurde einem schon von überall "Corona!" zugerufen, und der Flugverkehr wurde kurz darauf massiv eingeschränkt.

Welche Arbeit ist dadurch liegen geblieben?

Ich war gerade mitten in der Aufnahme eines offenbar teilweise in die Antike zurückreichenden Sagenzyklus mit sehr alten Erzählelementen. Ein fast erblindeter Dorfältester, dessen Familie schon seit Generationen innerhalb der Ruinenstädte eines alten Palastbezirkes lebte, und dessen damals noch lebende sehr alte Mutter ich schon vor zehn Jahren gekannt hatte, hatte plötzlich angefangen, eine lange Reihe zusammenhängender Überlieferungen zu erzählen. Es war ein fertiger Text in seinem Kopf. In früheren Jahren hatte er immer nur einzelne Elemente aus Überlieferungen erzählt, ebenso wie seine Mutter, nun aber schien er bereit, sein Wissen zusammenhängend zu präsentieren. Er hatte meine Arbeit eine Weile beobachtet und wollte, dass sein Wissen erhalten blieb. Er diktierte mir Geschichten, die an mir aus anderen Quellen bereits bekannte vorchristliche Überlieferungen über Schlangenfamilien und eine Verbindung alter Herrscher mit einem Schlangenkult anknüpfen, die Überlieferungen kuschitischsprachiger Völker ähneln, aber auch Elemente semitischer Tradition und aus antik griechischen Sagen. Es kommt sogar Pegasus vor. Es ist ein Beispiel einer sehr alten Erzähltradition, in der sich die verschiedenen antiken Kultureinflüsse des alten Äthiopien verbinden. Ich hatte auf eine Auswertungsphase in Tigray gehofft - und außerdem hatte ich kurz vor Abflug von Ruinen an einem alten Königsweg erfahren, den ich mir bisher nur hypothetisch überlegt hatte. Dieser Königsweg passt perfekt in Überlegungen, mit denen wir versuchen, alte Routen zu rekonstruieren, entlang derer die Tempelsteine von Yeha vor über 2800 Jahren transportiert wurden. Aber ob es wirklich passt? Das kann man immer erst vor Ort feststellen. Die erhoffte Fahrt zu dieser alten Route findet nun irgendwann später statt. Es trat also ganz plötzlich eine Pause ein, ich saß in Deutschland, das ich nun wieder allmählich kennenlernen muss... und ich begann, Archivalien und alte Texte zu verzeichnen. Das lohnt sich auch. Außerdem führe ich meine jahrelange Zusammenarbeit mit dem Doktorandenprogramm Geschichte der Mekelle University fort - ich traf nun meine Doktoranden nur noch online. Die Mekelle University hat mich 2019 zum Professor ernannt, als adjunct member, nachdem ich vorher adjunct Associate Professor war.

Für das Sommersemester war ohnehin ein Aufenthalt in München geplant – wie hat sich ihr Lehrauftrag durch Corona verändert?

Ja, und danach war die baldige Rückkehr nach Äthiopien geplant, um meine Feldforschung als Post-Doc der Universität Jena fortzuführen. Außerdem wollte ich meine Doktoranden in Mekelle weiterbetreuen, deren Forschungen seit Jahren immer interessanter werden. Stattdessen war nun alles anders. In München sollte ich zwei Vorträge in zwei Seminaren halten, zur Geschichte der Rassentheorie im 18. Jahrhundert, und zu modernen Entwicklungen in Äthiopien, und war Mitveranstalter eines Workshops zum Verständnis von Migrationen, am Beispiel des Horns von Afrika. Das war 2019 noch unter ganz anderen Bedingungen geplant worden und sollte eigentlich ein Aufenthalt mit vielen internationalen Begegnungen werden - daraus wurde ein schöner Aufenthalt fast ohne Begegnungen, denn alle anderen Eingeladenen hatten ihre Reisen wegen Corona abgesagt. Ich kam tatsächlich nach München, nachdem ich erst unsicher war, ob das überhaupt noch geht, hielt meine Vorträge - aber hinter dem Bildschirm, und danach verlängerte ich weiter meinen Deutschlandaufenthalt. Aber ich hatte gute Diskussionen, privat, meist mit Abständen, mit guten Kollegen, und so konnte ich doch wieder erleben, was eigentlich Humanwissenschaften ausmacht: Nämlich Menschen. Das war wieder für meine Forschungsarbeit in Jena sehr nützlich, wo wir über das Muster von Migrationen über längere Zeiträume nachdenken. Menschen nur virtuell hinter Bildschirmen sehen ist vielleicht gut für einen reinen faktischen Ideenaustausch, nicht aber für einen intensiven Gedankenaustausch, Diskussionen und Anregungen, die immer auch nonverbal laufen, körperlich, über Gesten, Bewegungen und nur in der Nähe wahrnehmbaren Emotionen. Erkenntnis über menschliche Kultur ohne Emotion und Nähe gibt es nicht, selbst wenn Fragestellungen recht technischer Art sind, da viele Informationen nur nonverbal geteilt werden.

Im September geht es jetzt wieder zurück nach Äthiopien – welche Aufgaben warten?

Eine längere Feldforschung wie geplant wird es nicht geben - mein Budget der DFG für ethnohistorische Forschungen, im Rahmen des von Professor Dr. Norbert Nebes in Jena und Dr. Iris Gerlach vom DAI geleiteten Yeha-Langzeitprojektes, kann ich gar nicht nutzen. Äthiopien ist noch auf der Liste der Risikogebiete und bleibt vielleicht noch länger drauf. Die meisten Länder haben ihre lokalen Forschungsprojekte auf Pause gesetzt, Konferenzen sind verschoben oder abgesagt. Ich werde also vor allem vor Ort meine Papiere regeln, meine Aufenthaltsgenehmigung, meine Forschungserlaubnisse - und delegieren. Ich möchte so gut es geht wenigstens kurze Gespräche mit Doktoranden führen, die ich seit 2015 betreue, in der Hoffnung, offene Fragen im direkten Austausch zu klären. Das ist am Bildschirm oder Telefon schwer. Und mit etwas Glück kann ich sogar einige kulturhistorische Fragen klären - einige Erzählungen hatten mich verwirrt. Da hilft eine Nachfrage direkt beim Erzähler, und beim Erzählen werden weitere Fragen klar.

Vermutlich geht es gleich nach Mekele (Tigray) – hier stehen Wahlen an. Als einziges Bundesland will Tigray beim ursprünglichen Zeitplan bleiben – die Zentralregierung ist dagegen. Macht es Ihnen Sorge, sich vielleicht bald zwischen Tigray und Äthiopien entschieden zu müssen?

Ich werde erst in Addis Abeba sein, wegen meiner Papiere. In Tigray gibt es zunächst die Herausforderung der eigenen Quarantäneregelung: Ich hoffe, es gibt Wege, diese zu verkürzen. Es genügt nicht, wenn man mit einem Negativtest von außen kommt - in Addis genügt das schon. Darin zeigt sich die alte Tendenz der äthiopischen Hochlandprovinzen zu einer ausgesprochenen lokalen Autonomie, die wir aus der Geschichtsüberlieferung kennen, wie Hamasen (heute das Kerngebiet des unabhängigen Eritrea) und Tigray schon vor dem Kolonialismus, aber auch andere Gebiete wie Gojjam, deren lokale Eigenständigkeit immer sehr ausgeprägt war. Im Lauf des 20. Jahrhundert äußerte sich dies gegenüber einem immer brutaleren Zentralismus ganz automatisch durch verschiedenste Rebellionen. Das geht natürlich so weiter. Keine äthiopische Regierung wird jemals die rhetorisch beschworene Einheit erreichen, solange diese verbunden wird mit einem von schwankenden Graden der Rechtsunsicherheit geprägten Staat, mit dem sich die Menschen nur bedingt identifizieren können. Sie mögen sich als stolze Äthiopier fühlen, aber gleichzeitig unter ihren Beamten leiden und unter einer Politik, die lokale Bedürfnisse und Vorstellungen nur bedingt wahrnimmt. Was in Tigray passiert, könnte man in vielen Seiten kommentieren, aber ganz kurz kann man sagen: Nachdem in Tigray ganz am Anfang die Begeisterung für Dr. Abiy und seine Reformen wie auch für den Eritrea-Friedensschluss wenige Wochen lang enorm war, kippte das alles schnell um. Auch in Tigray hatte man lange auf Reformen gewartet. Politische Hassreden erhielten nun im sich öffnenden Äthiopien ganz schnell einen Raum, auch in den Sozialen Medien, den es so massiv zuvor nicht gab - im Rahmen der Versöhnungspolitik kamen nicht nur moderate Oppositionelle frei, sondern auch Leute, die man als Gewaltunternehmer bezeichnen muss, bekamen unzählige Bühnen und zum Teil sogar wichtige Posten. Die Reform kippte sehr schnell um und gab Raum für neue Arten politischer Verteilungskämpfe und Machtverschiebungen. Äthiopische Regionen, und Tigray ist die intern soziopolitisch am meisten gefestigte dieser Regionen, regieren immer durch verschiedene Stufen des Abfalls und schließlich der Rebellion auf einen Staat, der in das Leben der Menschen einzugreifen droht. Wir sollten nicht vergessen, dass es neben den berechtigten Verhaftungen von Machtmissbrauchern auch zahlreiche Lynchmorde gab, gegen junge Tigrayer, Somalis, Amhara, je nach Region ganz verschieden, was das Vertrauen in die Reform sehr schnell in vielen Regionen untergrub. Der äthiopische Föderalstaat setzte dabei immer mehr auf eine "einigende" zentralstaatliche Rhetorik. Das ist aber immer kontraproduktiv gewesen und führt zu regionalen Abspaltungen. In schwächeren Gebieten wie dem Somali-Regionalstaat konnte sich das noch nicht manifestieren, denn 2019 griff die Zentralregierung direkt militärisch ein und verhaftete die Regionalregierung, und in der Walaytta-Zone wurde die lokale Verwaltungsspitze einfach abgesetzt. Wie berechtigt das sein mag, so war doch das Signal: Jede Region muss nun mit Intervention rechnen und sich maximal stärken gegen einen Zentralstaat, der die Balance zwischen der traditional starken Autonomie der Regionen und Interessen des Gesamtstaates verliert. Das sind dabei auch Kommunikationsprobleme: Ich beobachte, dass in Tigray oder Oromiyaa oder Afar oder in den mit kompetenten Verwaltern besetzten Ämtern in Addis Abeba dieselben Fakten völlig verschieden wahrgenommen werden. Nun, die Wahlen in Tigray sind also, darauf will ich hinaus, nur ein Ausdruck des Problems, ein Symptom, und aus lokaler Sicht sogar ein Beitrag zur Lösung. Erst wenn die Dissidenz voll sichtbar wird, können Lösungen kommen. Und wenn nicht, wird auf maximale Autonomie gesetzt. Das ist ein sehr gefährliches Spiel, wird aber in der Region seit langem, man muss sagen: seit Jahrhunderten, durchexerziert und sollte keinen überraschen. Politische Muster verschwinden nicht einfach und haben ihre Gründe, sie tauchen als Option also immer wieder auf, vor allem in Krisenzeiten. Es sind die alten politischen Methoden auch des Selbstschutzes gegen einen Staat, dem man nicht vertraut. Das allerdings kann eskalieren, und ich gestehe, dass ich mich auch davor fürchte. Aber ein unabhängiges Tigray? Auch wenn gerade in der städtischen Jugend viele davon träumen, dies ist nicht der Traum der Eliten. Aber maximale Autonomie? Aber ja, sicher - man kann sagen, dass derzeit ungeordnet abläuft, was ein Bundesstaat eigentlich ohnehin anbietet, nämlich die Subsidiarität des Rechts, ein weitgehendes Delegieren rechtlicher Abläufe an die Regionen. Es ist die Ironie, dass die EPRDF / TPLF ab 1991 den Föderalstaat aufgebaut hatte, eben dieser Prozess aber doch nie ganz umgesetzt wurde - die politischen Strukturen des modernen Äthiopien waren - ganz gegen das traditionelle Äthiopien - mehr auf Zentralverwaltungen in Addis ausgerichtet. Jetzt aber erlebt Tigray, wie sehr sie eigentlich die rechtliche Autonomie der Bundesländer brauchen, die ihre führende Partei in ihrer Sucht nach politischer Kontrolle vielen Gebieten Äthiopiens nie ganz zugestehen wollte, vor allem nach den missglückten Wahlen von 2005. Was wir sehen, ist also ein ungeordneter Prozess der Autonomisierung, der sowohl im alten Äthiopien als auch im Bundesländer-System ohnehin angelegt ist. Da auch politische und sonstige Kompetenz durch die starken Bildungsinitiativen der letzten Jahrzehnte in vielen Büros vorhanden ist, hoffe ich, dass bei aller Kräftemesserei Formeln gefunden werden, um eine kriegerische Eskalation zu verhindern. Aber es kann noch sehr kritisch werden - bis hin zu Scharmützeln an Tigrays Grenzen, und entlang anderer Grenzen innerhalb Äthiopiens, Einstellung des Verkehrs und des Warenverkehrs nicht nur nach Tigray, auch in ähnlich rebellische Gebiete Äthiopiens, Einschränkung des Budgets von Tigray. Aber ein unabhängiges Tigray? Ich glaube, dass am Ende eine de facto Anerkennung einer verstärkten Autonomie der verschiedenen äthiopischen Regionen stehen wird, aber verbunden mit vielen Jahren Unsicherheit, da die Tendenz besteht, entscheidende Fragen nicht zu lösen.

Für jedes Land auf der Welt ist die als die eigene akzeptierte Geschichte besonders wichtig – als Beobachter hat man den Eindruck, dass in Äthiopien die Geschichte noch viel, viel wichtiger ist. Woran liegt das?

Das lässt sich in wenigen Sätzen gar nicht beantworten, und nach vielen Jahren Forschung bin ich inzwischen der Meinung, dass selbst ein ausführliches Buch diese Sache noch nicht befriedigend beantworten wird. Darum mache ich es hier besonders kurz: Ich verweise nur auf ein paar Schlaglichter. Zunächst, eigentlich das erste, das man sagen muss: Ja, der Bezug auf Geschichte ist vor allem bei äthiopischen Hochländern omnipräsent. Es wird auf die Antike verwiesen, das Reich von Aksum, auf vergangene Größe, auf die sehr reichen äthiopischen Kulturen, mit eigenem Kalender, eigener Schrift, was auch Außenstehende zu Recht fasziniert. Aber Wissen um Geschichte? Das ist etwas anderes. Selbst unter studierten Historikern findet man wenige, die die Originalquellen jemals gesehen haben, oder zumindest die wichtigsten Forschungsaufsätze gelesen haben. Das Geschichtswissen besteht aus einem relativ begrenzten Set von oft über Radio, Fernsehen und modernen Zeitungen vermittelten Geschichtsnarrativen, die zum Teil in relativ neuer Zeit politisch konstruiert worden waren. Es gibt sogar allgemein bekannte Fakten, die jeder Äthiopier kennt, die irgendwann auf eine politische Rede zurückgingen oder auf eine Fehllesung zurückging. Das hat zu einem historischen Selbstbild geführt, das zum Teil die wirklich reiche Geschichte der Region verkennt, falsch einordnet und darum auch zu politischen Träumereien Anlass gibt, die ohne realen Bezug im Land sind. Ein objektives Problem dabei ist, dass es eine ungeheure Vielzahl von historischen Quellen und zahlreichen Sprachen gibt, die selbst ein guter Historiker selten vollständig benutzen kann. Dazu kommt, dass diese über Archive und Bibliotheken in anderen Ländern verstreut sind - ein ordentliches Forschen zu äthiopischen Regionen und zur politischen Geschichte führt einen, wenn einen das 19. Jahrhundert zum Beispiel interessiert, in diplomatische Archive in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Schweiz, Ägypten, Türkei, abgesehen von Äthiopien selbst, um nur die wichtigsten zu nennen. Dazu kommt ein reiches, aber selektives historisches Gedächtnis in Form von oft sehr detaillierten mündlichen Überlieferungen zu politischen Figuren und ihren Familien in den jeweiligen Regionen, die nur auf dem Land, von Ältesten bewahrt werden, von denen ein Großteil kaum in schriftlichen Quellen vorkommt. Aber wer ältere Textquellen findet, findet eben diese politischen Führungsgestalten wieder, zum Teil mit verblüffend genauer Bestätigung der mündlichen Überlieferung. Wenn man sich also das traditionelle Land, die traditionellen Gebiete Äthiopiens ansieht, findet man, dass dort vielfach, zum Teil fragmentarische historische Überlieferung lebendig ist. Das ist im lokalen Recht verankert, das den Zugang zu traditionellen Ämtern und zu Land regelt. Ohne eine genaue Überlieferung ist die Ausübung eigener Rechte nicht möglich. Man kann, gar nicht einmal zugespitzt sagen, dass alle nordostafrikanischen Gesellschaften eine historische Narrative besitzen, aus der sich ihre Gesellschaftsordnung ableitet und wirksam immer wieder neu verhandelt werden kann. Anders ist es mit den großen ganz Äthiopien umfassenden politischen Narrativen, z.B. darüber, welche Gebiete "von alters her" zu Äthiopien gehörten (oder auch, alternativ, "Wir sind keine Äthiopier!"), oder welcher Herrscher Äthiopien vereinigt habe. In solchen Geschichtsreferenzen kann man vor allem die mit politisch geglätteten Narrativen ausgestatteten Schulbücher oder auch die Projektionen der großen Oppositionsbewegungen in der Städten wiederfinden, viel weniger die Geschichte selbst. Wer Menilek II. lobt oder Yohannes IV., oder auch Tewodros II., oder das Gadaa-System, macht damit immer erst einmal ein politisches Statement. Die Referenz auf Geschichte kommt immer mit der Idee einher, man habe damit ein absolut objektives, faktisches Referenzsystem. Den wenigsten ist bewusst, wie viel politische Phantasie dabei eine Rolle spielt und wie wenig Geschichte. Die politische Wichtigkeit dieser historischen Referenzen lässt sich mit dem Blick auf die traditionellen, ländlichen Gesellschaften (im Plural, wie gesagt: Äthiopien besteht aus sehr verschiedenen Regionen!) gut verstehen: Die Geschichtserinnerung ist ein bei den traditionellen Gesellschaften System der Rechtsfestigung, der Referenz, die politische Systeme rechtfertigt und aufrechterhält. Nur funktioniert das im Chaos moderner, urban von verschiedensten politischen Kräften geprägten, widersprechenden Geschichtsnarrativen nicht mehr, in dem viele Gruppen nebeneinander stehen und ganz verschiedenartige politische Modelle im Kopf haben. Die Geschichte der salomonidischen Abstammung der äthiopischen Könige der Könige ist auch Ausfluss eines alten Modells der über Geschichte konstruierten Legitimität. Nur ist das moderne Äthiopien viel größer als das alte, es umfasst viel mehr Gesellschaften, und viel mehr widersprechende Geschichtserinnerungen und -erfindungen. Die eine, einigende Geschichtserinnerung gibt es nicht.

Sie vertreten sogar die These, dass äthiopische Geschichte nicht nur Regionalgeschichte, sondern Weltgeschichte ist. Was führt Sie zu dieser Überzeugung?

Wieder eine Frage, die man mit einem schönen Buch beantworten müsste. Zunächst eine ganz prinzipielle Vorbemerkung: Ganz erstaunlicherweise (und nach meiner Meinung höchst unprofessionell) wird Weltgeschichte weitgehend als Geschichte des Westens erzählt, ausgehend vom sich aus Römischem Reich und chaotischem Mittelalter entwickelnden, schnell aufstrebenden und dann expandierenden Europa, bis hin zu seiner ideologischen, politischen Ausstülpung Amerika. Dass man europäische Geschichte intensiv studiert, ist wichtig. Aber die Verwechslung mit Weltgeschichte ist verblüffend. Das wird oft mit der Kolonialisierung begründet, mit der erst weite Gebiete der Welt in den europäischen Denk- und Machtraum einbezogen worden waren und so erst historischer Dynamik ausgesetzt worden waren. So etwas wird ernsthaft gelehrt. Es gibt die, von den auf der Grundlage einer neu entwickelten, hochmodernen Rassentheorie argumentierenden Geschichtstheoretikern wie Kant und in seiner Nachfolge Hegel ausgehende, Idee, eine nennenswerte Geschichte in anderen Weltregionen habe es nicht gegeben. Die Herren (ja, meistens sind es Herren) kennen die Quellen nicht. In den jeweiligen Regionalwissenschaften gibt es zum Teil seit Generationen ausgearbeitete Quellenwerke, meist auf Philologen, und in anderen Regionen auf Ethnologen zurückgehend. Riesige Kompendien von Quellen in den verschiedensten Sprachen liegen vor, mit Schriftquellen, seit dem 19. Jahrhundert intensiv in zahlreichen Sprachen gesammelten mündlichen Überlieferungen, Inschriften. All dies verblieb weitgehend in den Kammern der Spezialwissenschaften, von der Tibetologie bis hin zur Äthiopistik, ganz zu schweigen von regionenübergreifenden Forschungen wie die zum Indischen Ozean. Grotesk zugespitzt scheint es: Europa ist die Welt (weil dies im Zuge der Expansionen im 18. bis 19. Jahrhundert so behauptet wurde), der Rest sind Regionen. Wir müssen also dringend Weltgeschichte neu denken. Dies wird auch überall verstärkt getan. Die Netzwerke des Islams, die alten Handelswege der afrikanischen Reiche, die großen Flotten des alten China werden immer mehr in die Mainstream-Geschichtsdebatten eingebracht. Es gibt wichtige neue Arbeiten, wie die der Juniorprofessorin Verena Krebs in Bochum, die ein wichtiges Buch über die Weltdiplomatie des äthiopischen Reiches des Mittelalters geschrieben hat, das zeigt, dass diese Diplomatie zeitweise einflussreicher und weitreichender war als die der eben erst erstarkenden europäischen Königreiche. Und hiermit kommen wir zum nächsten Aspekt: Ganz abgesehen davon, dass wir wirklich anfangen müssen, auf die Welt zu schauen, wenn wir von Weltgeschichte reden, spielt Äthiopien tatsächlich regelmäßig eine politische Rolle, die weite Regionen und geschichtliche Entwicklungen umfasst, die sich weltweit abspielen. Es gibt solche Wegscheiden und Fokuspunkte der überregionalen Geschichte, aber interessanterweise nicht nur in Europa oder im alten China, Ägypten oder Mesopotamien, um auf die bekannten Beispiele zu verweisen. In Äthiopien findet sich seit der Spätantike immer wieder eine Konzentration historischer Ereignisse von Weltbedeutung. Das hat damit zu tun, dass Äthiopien an einer kulturell-ökonomischen Wegscheide der großen Weltwege liegt: Zwischen innerem Afrika, den Karawanenwegen des antiken Sudan und Ägyptens, den arabischen Reichen und deren Handelswegen und dem östlichen Mittelmeer mit Ost-Rom und den Nachfolgestaaten, und den großen alten Ländern des Indischen Ozeans gelegen, entstehen immer wieder bemerkenswerte historische Konstellationen. Die erste muslimische Gemeinde außerhalb Mekkas lag in Tigray - sogar die erste muslimische Gemeinde zur Gründungszeit des Islam, die friedlich siedelte, noch während der Verfolgung der ersten Gefolgsleute Muhammads in seinem Heimatgebiet. Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck der Tatsache, dass Äthiopien ein gefestigtes Staatswesen aufwies, das über das Rote Meer, in den Nahen Osten und nach Indien internationalen Handel trieb und eines der kulturellen und ökonomischen Bezugsgebiete der arabischen Welt war. Auch wer sich für Ägypten oder das Römische Reich interessiert, findet im antiken Aksum eine interessante Kultur, die auf diese reagiert und ein Scharnier zu anderen Weltregionen darstellt. Spannend ist wie oben schon erwähnt die mächtige Diplomatie des mittelalterlichen Herrschers Äthiopiens, dessen Delegationen in Ägypten herrschaftlich empfangen wurden, im Gegensatz zu den "fränkischen" (ferenji) Gesandtschaften der Europäer. Die Herrschaft über den Nil und ein tatsächlich viele Regionen umfassendes Staatswesen machte Äthiopien zu einem Partner, die Weltpolitik betrieb. Auch die großen Expansionen des Osmanischen Reiches: Als die Osmanen vor Wien standen, saßen sie auf der anderen Seite an den äthiopischen Grenzen und waren dort eingehegt worden. Machen wir einen Sprung: Das sehr wichtige Buch von Aram Mattioli zu Äthiopien als "Experimentierfeld der Gewalt" zeigt überzeugend, dass wir den Zweiten Weltkrieg mit Mussolinis Überfall auf Haile Selassies Äthiopien beginnen lassen müssen. Dort wurden alle ersten Schritte faschistischer und später nationalsozialistischer Kriegsexpansion ausprobiert, die sofort zu einem Zusammenfall des Weltfriedenssystems führte, nicht erst 1939, sondern 1936. Das war kein entlegener Kolonialkrieg, sondern das zentrale Thema der Zeit, wie auch jeder Blick in damalige Zeitungen zeigt, eine weltumfassende Krise. Das war Weltgeschichte. Die Liste ist lang - interessanterweise finden sich zahlreiche welthistorische Entwicklungen nicht nur in Äthiopien wieder, sondern konzentrieren sich dort. Das sind nicht nur erfreuliche Geschichten, aber manche doch. Es war auch Weltpolitik, als Äthiopien im Zuge der Unabhängigkeit der afrikanischen Kolonien Sitz der OAU wurde - und natürlich, als Äthiopien Mandelas Kampf in Südafrika unterstützte.

Umgekehrt diagnostizieren Sie, dass es nicht die eine äthiopische Geschichte gibt, sondern dass die verschiedenen (ethnischen?) Bildungsgruppen fast nur ihr eigenes Narrativ kennen und nicht das der anderen. So geht die komplexe Geschichte des Landes und ihrer vielen Gruppen und Regionen verloren. Warum halten Sie das für gefährlich?

Das habe ich im Ansatz oben schon angedeutet: Jede politische Bewegung schafft sich ihre eigene Narrative, zum Teil aus verfälschender, selektiver Lesung der Geschichte, ganz nach dem Vorbild des äthiopischen Kaiserreiches, das darin eine große Meisterschaft erreicht hatte. Bei der Vielzahl der politischen Gruppen, Interessen und Bewegungen in Äthiopien gibt es auch eine Multiplizierung von Geschichte. Wenn man Pech hat, kann man schon in einem kurzen Gespräch aufgrund weniger politischer Referenzen erkennen, dass der Gesprächspartner, wie sympathisch auch immer, einer bestimmten radikalen Auffassung von Geschichte angehört. Aber das ist nur eine Seite, die vor allem das moderne, politisch hochaufgeladene urbane Äthiopien betrifft, die auch erstmal nicht ethnisch ist, sondern politisch.  Es gibt aber noch eine ganz andere, oft übersehene, aber in Wirklichkeit besonders evidente Tatsache: Weite Gebiete Äthiopiens waren vor der militärischen und politisch-diplomatischen (beides!) Expansion Kaiser Menileks im späten 19. Jahrhundert gar nicht äthiopisch, und zwar gemessen am reinen Territorium rund zwei Drittel - ein Teil davon war seit Jahrhunderten getrennt von Äthiopien und war politisch, religiös und ethnisch eigene Wege gegangen, andere Gebieten waren auch früher nicht unter äthiopischer Herrschaft. Das waren zum Teil Gürtel von unabhängigen Kleinstaaten, zum Teil sogar Gebiete von größeren Reichen wie das des durch eine lokale Religion sakralisierten Königs von Kafa mit seinen Satellitenkönigreichen, kooperierenden und verfeindeten muslimischen Sultanaten und weiten ethnisch verfassten Gebieten, die wir vielleicht Bauern- und Stammesrepubliken nennen können, in Ermangelung besserer Begriffe. All diese Gesellschaften, die jeweils verschiedene Rechtssysteme besaßen, sich in Sprachenclustern formiert hatten, wurden innerhalb weniger Jahre Teil eines völlig neuen politischen Systems, das auf militärischer Expansion beruhte. Einige der lokalen Herrscher kooperierten, wie der von Jimmaa, der selbst an der Teilnahme an der Expansion nach Kafa ein großes Interesse hatte, andere übten einen massiven Widerstand aus - mit fatalen Folgen. Da im Zuge der modernen Staatsformierung (und Restauration) die Zentralisierung und auf den Kaiser bezogene Einheit entscheidend war, verschwand das historische Wissen um diese Gebiete bzw. wurde uminterpretiert. Lokal blieb jedoch das Wissen darum, ganz abgesehen von generationenlanger Ausbeutungserfahrung in manchen Gebieten. Natürlich führte das zu zweierlei: Einer mangelnden Identifikation weiter Regionen mit dem Staat, aber auch dazu, dass es auch interessierten Eliten gar nicht möglich war, von der Geschichtsvielfalt dieser Regionen Kenntnis zu nehmen. Erst mit der Schaffung der Föderationsstaates gab es Möglichkeiten, diese divergierende Geschichte bekannt zu machen - was aber in vielen Fällen, vor allem im Laufe des letzten Jahrzehnts von Widerstandsführern und Leuten, die ich "Gewaltunternehmer" nenne, wiederum für ihre Zwecke benutzt und auch nicht selten wieder umgefälscht wurde, nach altem Vorbild. Ein unschuldiges Wiederentdecken der Vielfalt der Geschichte der verschiedensten Regionen gibt es aber gleichzeitig auch. Dazu kommt, auch oben kurz angedeutet, der traditionell hohe Grad von Autonomie der äthiopischen Kernregionen, von Tigray bis Gojjam und Shewa. Ein Fürst und König der Könige hatte in diesem Rahmen nur beschränkte Rechte, war vielfach vor allem ein moderierender Richter, auf der Grundlage einer Vielfalt verschiedener lokaler Rechtssysteme, und führte Kriege, die wiederum ein Element der - gewaltsamen - Herstellung einer gewissen Balance waren. Die Gefahr ist nun deutlich zu erkennen: Beim allgemeinen Mangel der Kenntnis der tatsächlichen reichen Vielfalt der Geschichte der oft sehr alten und kulturell reichen Regionen (wer kennt schon die Geschichte der Könige von Kafa neben denen von Gonder? Wer weiß schon, dass es bis heute den Sultan oder "König" des Sultanates von Awsa gibt?), bilden sich politische Phantasien eines Äthiopien fort, das es vor Ort gar nicht gibt. Diese Phantasien bestimmen aber die höchste Politik, aber bewirken auch Radikalisierungen verschiedenster Gruppen, die ihre vermeintliche oder tatsächliche Marginalisierung einer bestimmten Geschichtsnarrative entnehmen, die aber ihren Gegnern jeweils unerschlossen und unbekannt bleibt. Äthiopien spricht nicht mehr mit den Äthiopiern. Die große Aufbruchsstimmung der Anfangszeit von Dr. Abiy bestand auch darin: In der Hoffnung, endlich gehört zu werden.

Zum einen wird jede geschichtliche Aussage in Äthiopien sofort politisch ausgedeutet. Zum Beispiel, wenn Sie sich zur frühen Besiedlung von Addis Abeba äußern würden. Zum anderen könnte man den Eindruck gewinnen hier würden noch viel mehr Menschen als bei uns an die Geschichte als exakte Wissenschaft glauben. Welche Aufgabe haben Sie als Historiker und wie schwierig ist sie?

Nur kurz: Man sollte seine Aufgabe nie überschätzen, vor allem nicht als Ausländer. Aber ich spreche nicht bloß als Ausländer, sondern als Akademiker und Forscher, und als solcher gehört man immer irgendwann der Region an, der man sein Leben widmet. Wem das nicht passiert, bei dem stimmt womöglich etwas nicht. Und ja: Geschichte wird als "objektives Referenzsystem" genutzt für politisch höchst subjektive und partikulare Aussagen. Aber in einem Jahrzehnt Unterricht mit fortgeschrittenen Studenten und Kollegen an der Mekelle University habe ich festgestellt: Mit nur wenigen Erklärungen zur Vielfalt historischer Quellen und Sichtweisen öffnet sich die Bereitschaft gewöhnlich sehr schnell, Geschichtserzählung als unvollständig, politisch beeinflusst und abhängig von partikularen Erfahrungen wahrzunehmen. Wie schnell das eine eindrucksvolle Dynamik an Forschungsdurst und -interesse auslöst, war immer eindrucksvoll. Dies führte auch zu interessanten Doktorarbeiten, die gerade am Entstehen sind. Also welche Aufgabe gibt es: Sicher nicht die, zu einem größeren politischen Publikum zu sprechen, die politischen Zerreißkräfte sind zu groß. Aber man sollte sich schon dem Drang hingeben, Forschungen und Informationen in ihrer Vielfalt zur Verfügung zu stellen. Es gibt sehr faszinierende Geschichte in Äthiopien, die Geschichte von hochkreativen und fein austarierten Gesellschaften, kluge alte Mythen, die kulturgeschichtlich bedeutend sind, komplexe Biographien äthiopischer Intellektueller und Politiker, deren Geschichte auch - ich erlaube mir den Hinweis - manchmal Weltgeschichte ist. Die Geschichte der Besiedlungen von Addis Abeba sind ein Beispiel: Ich habe mich intensiv mit Quellen beschäftigt, die ein recht klares Bild der Siedlung Finfinnee, ungefähr um die heutige Giyorgis-Kirche in Arada herum, ergeben. Wenn ich diese inmitten der Oromo-Unruhen veröffentliche, könnte dies einer Parteinahme für Oromo-Extremisten gleichkommen, die behaupten, Addis Abeba gehöre ihnen. Dennoch kann man Geschichte nicht verschweigen, gerade das Verschweigen hat viel Unglück gebracht, allein schon wegen des verzerrten Selbstbildes, das am Ende in politische Aktion mündet. Die Lösung besteht darin, längere Prozesse zu schildern: Ich arbeite an einem Aufsatz, der schildert, wie eine sakrale Stätte über viele Bevölkerungen hinweg immer wieder neu sakral und politisch genutzt und umgedeutet wurde. Das schließt die sakrale Stätte von Finfinnee ein, wie auch frühere christlich-orthodoxe Nutzung und neuere Umwidmungen durch äthiopische Herrscher, jeder folgt einer gleichen historischen Tendenz, jede Gruppe hat so ihren historischen Anteil an der sakralen Stätte, die mit einer größeren historischen Tiefe betrachtet werden muss.

Haben Sie vor diesem Hintergrund überhaupt noch Lust darüber zu sprechen, was das momentane Hauptproblem Äthiopiens ist und was das mit seiner Geschichte zu tun hat?

Wie Sie an meinen Antworten sehen: Ja, viel Lust, viel Hoffnung, bei aller kritischen Diagnose. Ich habe nun schon mehr als mein halbes Leben mit Äthiopien verbracht und ein Dutzend Jahre in Äthiopien gelebt. Es wäre eigenartig, wenn mich nicht alles sehr bewegen würde. Es ist mein Leben.

Und nun die schwierigste Disziplin für einen Wissenschaftler, die Diagnose. Wollen Sie für Äthiopien eine wagen?              

Ja: Weitere vierzig Jahre eine unklare Gemengelage, mit gegeneinander stehenden Politikmodellen, zwischen Autonomie und Allianz schwankenden Regionen, geprägt von gelegentlichen militärischen Zusammenstößen verbunden mit Territorialansprüchen zwischen konkurrierenden Regionen wie Oromiyaa und Somali, ein Staat, der weiter beansprucht, ein einiges Äthiopien zu vertreten, obwohl es dieses auch weiterhin nur bedingt geben wird - und ein Fortführen von Reformprozessen, Institutionsreformen, aber ohne Auflösung der Widersprüche. Die erste Notwendigkeit ist, eine auf rechtsstaatlichen Prinzipien beruhende Verwaltung aufzubauen, einschließlich Verwaltungsgerichtsbarkeit, und eine Anerkennung lokaler soziopolitischer Traditionen (die eben nicht bloß ethnisch sind, sondern lokal immer eine gewisse Stabilität gesichert haben), mit lokalen Landrechten, auf die der Staat nur bedingt Zugriff hat. Wenn dies gelingt, wird das äthiopische Modell so attraktiv, dass Nachbarstaaten beitreten können. Wenn das misslingt, dann wird es endgültig die Festigung abtrünniger Teilgebiete geben, und ein Zerfall wäre dann tatsächlich real. Aber das dauert, noch hat Äthiopien viel innere Kraft und viel Kompetenz. Aber morgen kann meine Diagnose überholt sein.

     

   Informationen zur Person:

Dr. phil. Wolbert G.C. Smidt, Abitur an der Deutschen Schule Paris, dann Studium in Berlin und Genf, Geisteshistoriker und Ethnohistoriker, 1999 bis 2010 Assistant Editor der Encyclopaedia Aethiopica am Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg, Autor von rund 200 Artikeln und Aufsätzen zu Nordostafrika, dann 2010-17 Associate Professor in Ethnohistory der Mekelle University, Aufbau eines Doktorandenprogramms am Department for History and Cultural Studies, Gastprofessuren in Paris (EHESS), Rom (La Sapienza) und Osaka (Minpaku), 2019 Ernennung zum full Professor als adjunct member am Department for Anthropology und Post-Doc der Friedrich-Schiller-Universität Jena und seither weiterhin eingesetzt als Feldforscher in Äthiopien, weiterhin Betreuer von Doktoranden in Ethnologie und Geschichte an der Mekelle University

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