Kommentar W. Smidt: "Einen 'deep state' gibt es nicht"

Leider wird die äthiopische Situation von vielen ausländischen Kommentatoren aus ganz irreführenden Blickwinkeln beurteilt. Sie geraten in zahlreiche Denkfallen, z.B. glauben sie die "afrikanische Stammesvielfalt" (modern: Ethnizität) sei das Problem. Das ist ein dramatisch fehlleitendes Missverständnis der Verhältnisse, denn gerade da liegt nicht das Problem, sondern eben ganz umgekehrt in der mangelnden Kompetenz vieler Staatsinstitutionen, im mangelnden Rechtsbewusstsein/-kenntnissen der Beamten, mangelnder Sicherheit, im Gegensatz zu stabileren lokalen Einheiten (gerade nicht immer Ethnien), auf die man sich bei Unsicherheit und Unzuverlässigkeit des Staates immer zurückzieht. Dass man diese gegen einen als einen zumindest mit Skepsis oder gar tiefem Misstrauen betrachteten Staat verteidigen will (mit dem es in der Mehrzahl der Regionen seit mindestens 140 Jahren keine guten Erfahrungen gibt), ist immer angelegt. In den Krisensituationen der letzten Jahre hat dies "Politunternehmer", die auch Gewalt künstlich erzeugen, erstarken lassen, die die dadurch mögliche Dynamik anheizen, zum Teil durch geschickte höchst moderne Informationsmanipulationen in den Social Media (wie besonders in Oromiyaa).

Das Symptom wird also mit Ursachen verwechselt, und das führt bei europäischen Kommentatoren und Politikern dann dazu, dass gerade die falschen Beschlüsse besonders gestützt werden - z.B. die Tendenz zu mehr Zentralisierung auch unter Missachtung rechtlicher Prozeduren und komplex austarierter Machtbalancen durch Dr. Abiys Regierung, da er ja "Einheit" möchte, was richtig und lobenswert klingt; eine Einheit ohne Minimalrechtsstaat ist aber eine Einheit von Machtmissbrauchern, nicht des Landes, und das weiß jede Region in Äthiopien, die von der vergangenen "Einheit" des Staates nicht profitiert hat.

Dazu kommt die doch vor allem an Paranoia appellierende Erklärung, "alte Eliten" würden versteckt den Reformprozess unterwandern, was der Behauptung von Erdogan und Trump entspricht, die von einem "deep state" faseln. Den gibt es aber nicht. Damit lenkt man von den eigentlichen Ursachen des Chaos ab, wie z.B. Schwäche der Institutionen in Verbindung mit zu schneller politischer Öffnung gegenüber praktisch allen politischen Kräften, auch militanten und radikalen, von lokalen Ethnofaschisten bis zu höchst gewaltbereiten Einheitsideologen - da braucht man keine alten Eliten, um den Reformprozess zu zerstören. Diese politischen Kräfte haben ihre Chance schnell genutzt, neben den ohnehin in ihrer großen Überzahl weiterhin amtierenden Administratoren des alten Staates, die ihre Pfründe weiterhin besitzen, ihre Posten nach wie vor haben, die Teil eben des Systems waren und nach wie vor sind, und nur die ideologische Färbung nach außen hin angepasst haben.

Symptomatisch dafür ist dieser neue Artikel, der in manchen zentralen Punkten wichtiges verkennt, andere Vorgänge aber informativ beschreibt: Konfliktporträt Äthiopien der Bundeszentrale für politische Bildung

Ein Zitat, das an in Äthiopien verbreitete Überzeugungen (besonders unter orthodoxen Christen) appelliert, dass es verborgene zentrale Mächte gäbe, die einen Großteil der Vorgänge in der Hand haben: "Angesichts seines mutigen Reformkurses fürchten die alten Eliten um ihre Pfründe und lassen ethno-nationalistische Konflikte im Vielvölkerstaat eskalieren." Ein weiteres Beispiel für eine leider ganz und gar ahnungslose, aber den üblichen Mustern entsprechende Geschichtserklärung: "Das fast 1.000 Jahre strikt zentralistisch regierte äthiopische Kaiserreich...", das ganz im Gegenteil bis in die 1940er Jahre (bis zur Restauration des zurückgekehrten Haile Selassie) überaus dezentral in zahlreiche soziopolitisch überaus verschieden konstituierten Provinzen strukturiert war, wie autonome Feudalgebiete und Republiken mit eigenen Rechtstraditionen. Wer das nicht weiß, versteht auch die Rebellionen des 20. Jahrhunderts nicht, die sich gegen Okkupation durch einen entgrenzten, militaristischen Ausbeuterstaat wehrten - es sei denn, er schiebt das auf "Ethnizität" und macht damit das Verständnis ganz unmöglich.

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